Veröffentlicht am 26. Januar 2015 von Juan Proll
Erdmännchen-Magie
Es ist Nachmittag in Namibia. Die Sonne rollt sich in Richtung Horizont und wir steuern – müde von den Anstrengungen des Tages – unserer Unterkunft für die Nacht entgegen. Anders als sonst üblich empfängt uns heute aber nicht der gewöhnliche Rezeptionist oder gar die Managerin.
Stattdessen begrüßt uns ein eher ungewöhnliches Wesen, eine kleine Kreatur mit großer Wirkung: es ist Toffie das Erdmännchen.
Ich bin immer wieder gerührt zu sehen, wie Menschen, und ganz besonders Frauen, im Angesicht ihrer ersten Begegnung mit einem Erdmännchen in hemmungslose Verzückung geraten: „Ooohhh, guck mal da! Ja, wer bist du denn? Nein, bist du süß!“ … Die Taschen werden sogleich mitten im Laufweg fallen gelassen und ihr Abwesenheitsassistent mit sofortiger Wirkung aktiviert. Sämtliche Müdigkeit ist verflogen, die Aussicht auf entspannte Minuten am Pool vergessen und das Einchecken auf unbestimmte Zeit verschoben. Wir Männer stehen dann meistens nur noch sprachlos herum und täuschen allenfalls vor, die in die Knie gefallenen Damen vor potenziellen Gefahren der Umgebung zu schützen. Also halten wir gezielt Ausschau nach Mammuts, Säbelzahntigern und Flugsauriern. Man kann ja nie wissen.
Kinowelt live
Im Glanze der Augen meiner Gäste spiegeln sich Erinnerungen an Timon aus „König der Löwen“ und Kolo aus dem Film „Wächter der Wüste“. Sie sind Filmfiguren und Repräsentanten einer Gattung, die „tierisch süß“ ist und gleichzeitig in ihrem Verhalten sehr menschlich erscheint. Kein Wunder also, dass ihr Name nicht allein daher rührt, Erdbewohner zu sein, sondern im zweiten Teil die Besonderheit würdigt, dass sie in ihrer Sitzposition Männchen machen. Ihren langen Schwanz, der beinahe so groß ist wie sie selbst und der diesen dekorativen schwarzen Tupfer auf der Spitze hat, legen sie dabei nach hinten ab. Dies vereinfacht die manchmal schwierige Balance. Doch als wenn all das nicht schon genügend verführerisches Flair hätte, hypnotisieren sie die ahnungslosen Seelen der Umherstehenden auch noch damit, so niedlich klein zu sein, ein kuschelig weiches Fell zu haben und aus tiefdunklen Augen hoch in die nach Aufmerksamkeit dürstenden Gesichter zu schauen. Als Ranger stehe ich häufig daneben und frage mich, wer hier eigentlich das Opfer ist? Sind es die zierlichen Mangusten, die manchmal hilflos den Streichelattacken der Touristen ausgeliefert sind? Oder sind es die Reisenden, die in der Hitze der Kalahari vom Zauber der goldigen Geschöpfe betört werden und eine Art temporären Kontrollverlust erleiden?
Überleben als Waisenkind
Toffie bewegt sich frei innerhalb und außerhalb der Kalahari Red Dune Lodge herum. Die meiste Zeit des Tages kann man ihn bei der Futtersuche beobachten. Dann scharrt er mit seinen kräftigen Vorderbeinen und den rund 15 mm langen Krallen den Boden ab, sucht nach Essbarem wie z.B. Würmern, Käfern und sonstigen Krabbeltieren. Schon beim bloßen Zusehen mag man es am liebsten gleich in den Arm und mit nach Hause nehmen, um es dort mit einem exquisiten Dinner zu beglücken: gemeinsam am Tisch sitzend, weißes Stofftuch um den Hals, dezentes Kerzenlicht und dazu die kalt servierte Insektenplatte. Toffie weiß, wie es ist, gefüttert zu werden. Es heißt, dass er und seine Schwester einst als von der Mama verlassene Babys gefunden und von Menschenhand aufgezogen wurden. Die Schwester hat wohl irgendwann ihren Weg in die Wildnis gewählt, während Toffie bei den Menschen blieb.
Als Haustier ungeeignet
Zu sehen, wie Toffie so friedlich-niedlich sein Leben in der Lodge genießt, verleitet nur allzu sehr, darüber nachzudenken, sich ein Erdmännchen als Haustier zu halten. Und tatsächlich hat die Zahl der Haushalte weltweit explosionsartig zugenommen, in denen heute die putzigen Racker Bestandteil der Familie sind. Die Filmindustrie hat ihr Übriges dazu beigetragen. Zahlen gibt es leider keine, aber Erfahrungen: Nur zwei Tage später kommen wir an einer Lodge vorbei, die einen geschützten Bereich eingerichtet hat, in denen Erdmännchen leben. Das Rostock Ritz hat sich zur Aufgabe gemacht, hier ehemalige Haustierchen aufzunehmen und zu versuchen, ihr Überleben zu sichern. „Alles fing damit an“, so erklärt uns der Besitzer Kucki, „dass irgendwann mal jemand auf mich zukam und mich fragte, ob ich nicht ein paar Erdmännchen in Obhut nehmen könnte, die als Haustiere nicht mehr tragbar sind.“ Diese Erdmännchen einfach nur auszusetzen, hätte ihren sicheren Tod bedeutet, da sie nicht gelernt hatten, in der Wildnis zu überleben. Und so erklärt Kucki weiter: „So lange sie klein sind, sind sie pflegeleicht, aber ab einem bestimmten Alter kommt das Wilde in ihnen durch und sie fangen an, die Wohnung auseinanderzunehmen und zu beißen.“ In seinem Gehege finden sie Ihresgleichen, sozialisieren sich und schaffen teilweise den Weg in die Freiheit.
In der Obhut der Familie
In der freien Natur sind Erdmännchen sehr gesellige Vierbeiner, die in Familienverbünden von bis zu 30 oder sogar mehr Individuen leben. Der Kolonie voran steht in der Regel ein dominantes Pärchen. Wenngleich das herrschende Weibchen gerne mal andere schwangere Weibchen der Gruppe vertreibt – insbesondere wenn es selbst trächtig ist und die eigene Brut für die Nachwelt sichern will –, so steht im Mittelpunkt des Zusammenlebens doch sehr viel Fürsorge und gegenseitige Verantwortung. Z.B. unterstützen sich die Familienmitglieder gegenseitig bei der Aufzucht ihrer Jüngsten. Auch müssen immer einige unter ihnen Wache schieben, während die anderen auf Futtersuche sind. Und selbstverständlich wird der Nachwuchs lehrbuchartig in die Kunst der selbständigen Ernährung eingeführt. Sie bekommen nicht nur gezeigt, was sie verschlingen können, sondern lernen auch, ihre Mahlzeit gaumenfreundlich vorzubereiten.
Was z.B., wenn ihnen mal eine Delikatesse wie ein Skorpion über den Weg läuft? Wer von euch schon mal von einer Wespe in den Hals gestochen wurde, weiß sicher bereits, worauf ich hinaus will. Auch Skorpione würden mit ihrem Giftstachel an der Schwanzspitze gnadenlos zustechen, wenn ihr Leben bedroht ist. Und dieser Stich wäre wiederum eine Lebensbedrohung für den Gestochenen. Erdmännchen haben die Gabe, diese Giftspritze des Skorpions in gebührender Geschwindigkeit vom Körper zu trennen. Sie beißen sie ab. Die Kleinen müssen dies aber erst noch lernen. Anfangs bekommen sie den toten Skorpion bereits servierfertig vorgesetzt, später einen lebenden ohne Dorn. An diesem können sie die notwendigen Griffe lernen, bevor sie es dann fressen. Und schließlich kommt die Stunde der Wahrheit, wo sie den Skorpion unpräpariert und in seiner vollen Pracht jagen und töten müssen. Sicher nichts für besorgte Mütter. Zwar heißt es, dass Erdmännchen gegen die meisten Skorpiongifte immun sind, doch auch unabhängig davon, kann ein Stachel natürlich eine Menge mehr Schaden anrichten, wenn er erst einmal wild um sich schlägt. Wenn die Prüfung erfolgreich bestanden wird, dann folgt sicherlich eine der in der Erdmännchen-Gesellschaft so beliebten Kuscheleinheiten, bei denen man kreuz und quer, über- und untereinander liegt.
Von Menschen adoptiert
All diese Dinge kennt Toffie leider nicht. Aber er hat sich von einer Familie von Menschen adoptieren lassen, die ebenfalls bereit ist, ihr Wärmstes zu geben. Keiner würde hier auf die Idee kommen, ihn in eine Zweizimmer-Wohnung einzusperren. Ja, es scheint ihm gut zu gehen. Er ist zwar bei der Futtersuche allein und vor seinen natürlichen Feinden, den Raubtieren, Schakalen und Greifvögeln weitestgehend ungeschützt, aber wenn er Nähe und Geborgenheit sucht, dann weiß er, wo er sie finden kann.
Grüßt ihn bitte von mir, wenn ihr ihn das nächste Mal seht!